Ein Gespräch mit Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, und Martin Fugmann, Leiter des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums in Gütersloh, zur digitalen Bildung.

Jörg Dräger, Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung.
Schulleiter des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums (ESG) in Gütersloh.

Herr Fugmann, wie gut ist Ihr Gymnasium auf den neuen Corona-Lockdown vorbereitet?

Martin Fugmann: Technisch sind wir gut gerüstet, alle Lehrkräfte und Schüler:innen haben digitale Endgeräte. Wir haben in den vergangenen Monaten auch unsere digitalen Lehrmethoden überarbeitet und weiterentwickelt. Es klappt also – aber die Digitalisierung erfolgt derzeit eher unter Zwang und ist in dieser Form nicht das Modell für die Schule der Zukunft. Wenn Distanzlernen bedeutet, dass die Schüler:innen stundenlang allein vor dem Computer sitzen und nur über Zoom Kontakt untereinander sowie zu den Lehrkräften aufbauen können, dann ist das für ihre Entwicklung nicht förderlich. Der digitale Anteil am Lernen ist wichtig, sollte aber 30 bis 40 Prozent des Unterrichts nicht überschreiten.


Herr Dräger, lässt sich die Erfahrung von Herrn Fugmann auf das gesamte Schulsystem übertragen?

Jörg Dräger: Die deutschen Schulen holen gerade dank Corona ihren Rückstand bei der technischen Infrastruktur auf. Aber das ist eben nur der notwendige erste Schritt. Die Digitalisierung der Bildung kann und darf sich nicht darin erschöpfen, den bisherigen Unterricht zu streamen und ein Arbeitsblatt als PDF bereitzustellen. Es gilt, mit digitalen Lernanwendungen den gesamten Unterricht individueller und flexibler zu gestalten. Digitale Bildung ermöglicht mehr Begleitung, Interaktion und Feedback, als es bisher an vielen Stellen der Fall ist. Um dieses Potenzial zu erschließen, brauchen wir eine völlig neue Pädagogik. Spannend ist die Frage, ob die von Herrn Fugmann angesprochene Zwangsdigitalisierung nun tatsächlich den Anstoß für ein neues, hybrides Konzept mit einer gesunden Mischung aus Präsenz- und Distanzlernen gibt.


Warum ist eine neue Pädagogik noch wichtig?

Jörg Dräger: Weil bestimmte Kompetenzen immer wichtiger werden: Kreativität, Eigeninitiative, Kollaboration und Resilienz. Der Begriff „New Work“ steht ja für diese Kompetenzen. Aber „New Work“ braucht auch „New Education“.  Schule muss unsere Kinder darauf vorbereiten und ihnen diese Fähigkeiten in allen Fächern vermitteln. Dafür ist die neue digitale Art des Lernens sehr hilfreich.

Martin Fugmann: Dazu muss dann der Unterricht weniger lehrer- und mehr schülerzentriert werden. In der modernen Gesellschaft ist die Angebots- von der Nutzerorientierung verdrängt worden: Der Konsument oder der Nutzer stehen im Mittelpunkt. Mit dieser Haltung kommen die Kinder in die Schulen. Dort arbeiten wir aber immer noch lehrer- bzw. angebotsorientiert. Da sollten wir den Schalter umlegen. Im Moment führen digitale Anwendungen oft dazu, den Schüler:innen einfach noch mehr Lernstoff vorzusetzen, anstatt sie gezielt zu coachen und zu begleiten. Derzeit betreiben wir die Digitalisierung überwiegend mit Instrumenten, die unsere analoge Welt abbilden und die Nachteile des klassischen Lernens eher noch verstärken. Diejenigen, die ohnehin leistungsstark sind, kommen damit ganz gut klar. Schwächere Kinder drohen dagegen weiter zurückzufallen, das haben die Corona-Erfahrungen gezeigt. Deshalb brauchen wir mehr individuelle Lernbegleitung für jedes Kind und mehr digitale Anwendungen, die Lehrkräften, Schüler:innen und Eltern einen echten Nutzen bringen.

Jörg Dräger: Richtig. Ich sehe die Gefahr, dass die schicke Digitaltechnik lediglich eine überholte Pädagogik verfestigt. Wenn die Matheaufgabe von früher nun mit Animationen daherkommt und das als Lernfortschritt gilt, verschenken wir unglaublich viel Potenzial. Dabei bieten die technologischen Möglichkeiten die Chance, Lernanwendungen zu entwickeln, die gezielt den Erwerb der modernen Kompetenzen unterstützen. Wichtig ist mir, dass beim digitalen Wandel in den Schulen niemand auf der Strecke bleibt. Die Digitalisierung geschieht sowieso. Aber ungesteuert vertieft sie die soziale Spaltung: Manche Kinder haben die Voraussetzungen im Elternhaus, um selbstständig zu lernen, andere nicht. Sei es, weil Endgeräte fehlen, die Eltern nicht unterstützen können oder es kein ruhiges Zimmer zu Hause gibt. Deshalb muss Politik bei der Anschaffung geeigneter digitaler Endgeräte vor allem Schüler:innen aus benachteiligtem Umfeld fördern. Die Schule wiederum sollte ihnen den richtigen Umgang mit diesen Geräten vermitteln. Dazu gehört auch das Abschalten, bevor die Ablenkung durch Games und soziale Medien zu groß wird. Ansonsten droht die Kluft zwischen leistungsstarken und -schwächeren Schüler:innen weiter zu wachsen.


Was braucht es als Voraussetzung für die neue Pädagogik?

Martin Fugmann: Am wichtigsten ist eine bejahende Haltung zur Digitalisierung, und zwar von unserer Gesellschaft im Ganzen, nicht nur in den Schulen. Die Vorbehalte gegenüber einem digitalen und individuellen Lernen sind in Deutschland noch weit verbreitet. Das liegt auch daran, dass eine große Digitalskepsis in der deutschen Bildung herrscht. International gibt es dagegen bereits viele tolle Konzepte, wo digitale Pädagogik die Lehrkräfte prima unterstützt. Wir brauchen einen gemeinsamen Dialog mit Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen darüber, wie die Software der Schule von morgen gestaltet sein sollte. Parallel dazu muss die Lehrerfortbildung zu digitalen Lehrmethoden verbessert werden. Nötig sind außerdem Konzepte für die Vermittlung digitaler Kompetenzen im Primarbereich und in Förderschulen, das ist noch einmal eine ganz andere Herausforderung. Um die Digitalisierung in den Schulen zu verankern, helfen keine Sonntagsreden, sondern nur Erfolgserlebnisse im Schulalltag. Deshalb ist jedes Pilotprojekt Gold wert. Wir können nicht auf neue Strategiepapiere warten, sondern wir müssen jetzt loslegen!

Jörg Dräger: Das kann ich nur unterstreichen. Digital sollte das neue Normal an den Schulen werden. Denn die Digitalisierung ist und bleibt Teil unseres Lebens, auf das Schule unsere Kinder vorbereiten muss. Ein unverzichtbarer Teil des Kulturwandels ist aber auch ein Bekenntnis zur Heterogenität, indem wir anerkennen, dass jedes Kind unterschiedlich ist und eine maßgeschneiderte Lernbegleitung benötigt. Unser Bildungssystem und unsere Lehrerausbildung waren früher eher so angelegt, dass sie Heterogenität als ein Problem sehen, weil Unterricht mit Schüler:innen unterschiedlicher Leistungsstände schwieriger umsetzbar ist. Analog ist es für eine Lehrkraft tatsächlich kaum zu schaffen, in einer 30-köpfigen Klasse alle Schüler:innen individuell zu betreuen. Doch mit digitalen Hilfsmitteln wird es möglich, die Lernausgangslage besser zu ermitteln und persönlich zugeschnittene Lernpläne zu erstellen. Die Digitalisierung ermöglicht die Individualisierung der Bildung. Wenn dieser Kulturwandel gelingt, dann gelingt auch das Lernen für die Zukunft.


Dieses Interview erschien im Rahmen einer Sonderbeilage der FAZ zum Thema „New Education“.